Von der Wiege bis zur Bahre – Gruppen begleiten uns durchs Leben. Sie sind überall dort, wo sich Menschen rund um einen Zweck oder eine Aufgabe zusammenfinden. Wie kann es aber gelingen, gemeinsam komplexe Probleme zu lösen und Entscheidungen zu treffen, die alle mittragen können, damit die Umsetzung gelingt? Strategische Businesspartner:innen und interne Berater:innen können dabei wertvolle Beiträge leisten.
Gruppendynamik in Teams verstehen und nutzen
Wenn Gruppen gemeinsam eine Entscheidung treffen sollen, kann es mitunter dynamisch zugehen. Gut funktionierende Teams achten zwar darauf, dass alle Mitglieder am Entscheidungsprozess mitwirken können und beachtet werden. Doch auch unter diesen idealen Bedingungen ist es nicht selbstverständlich, dass Gruppenentscheidungen besonders gut sind. Sie kennen sicherlich Situationen in Ihrem Unternehmen, wo Teams zusammenkommen und endlos lange diskutieren – ohne ein Ergebnis zu erzielen beziehungsweise eine Entscheidung zu treffen. Wenn alle maximal genervt und erschöpft sind, folgen die Beteiligten dem nächstbesten Vorschlag, nur damit das Meeting ein Ende hat. Doch sie tragen die Entscheidung in so einem Fall häufig nicht wirklich mit. Daher stellt sich die grundsätzliche Frage, wann es überhaupt sinnvoll ist, Gruppen und Teams entscheiden zu lassen.
Die Gruppe soll entscheiden – aber wann und wie?
Gruppen haben gegenüber Einzelpersonen den Vorteil, dass sie unterschiedliche Wahrnehmungen, Kenntnisse und Eigenschaften mitbringen, die sie in den Entscheidungsprozess einbringen können. Daher kann es in den folgenden Situationen hilfreich sein, Entscheidungen durch eine Gruppe zu fällen:
- Wenn die Problemlage komplex ist, also eine Vielfalt von Perspektiven, Erfahrungen und Sichtweisen einfließen müssen
- Wenn die Fragestellung fachübergreifend verläuft und verschiedene Spezialist:innen gefragt sind
- Wenn Fragen von hoher emotionaler Bedeutung enthalten sind und ein einfühlsames, heikles Abwägen nötig wird
- Wenn ein großer Unsicherheitsfaktor im Spiel ist, etwa bei Zukunftsfragen
- Wenn eine hohe Akzeptanz der Lösung erforderlich ist
Wenn mindestens einer der Punkte zutrifft, kann es sich lohnen, an Gruppen zu verweisen. Die Entscheidungsfindung funktioniert besonders gut, wenn der/die Vorgesetzte sich vorher damit auseinandersetzt, in welchem Ausmaß eine Entscheidung an das Team delegiert werden soll. Trifft die Gruppe die Entscheidung für ein neues Projekt – oder nur über einen Teilbereich? Kann sie entscheiden, ob etwas umgesetzt wird oder nur Details der Ausgestaltung bestimmen?
Entscheidungsfähigkeit entwickeln
Dabei sollten Führungskräfte den Reifegrad des Teams im Blick behalten. Denn die Fähigkeit von Gruppen, zu Entscheidungen zu kommen, muss sich erst entwickeln – und das ist für alle Beteiligten eine anspruchsvolle Angelegenheit. Der Zeit- und Energieaufwand dafür ist hoch. Denn innerhalb der Gruppe stören den Entscheidungsprozess oftmals ungeklärte soziale Fragen, die im Gespräch mitlaufen:
- Wenn sich die Gruppe nicht genug Zeit nimmt, um die Fragestellung zu klären, besteht die Gefahr, dass sie kein gemeinsames Verständnis der Aufgabe entwickelt. Das Zielbild ist unklar, die Methode zum Erreichen des Ziels diffus und Diskussionen laufen unzusammenhängend und springend.
- Eine Gruppe will ihren Zusammenhalt eher nicht gefährden. Folglich kommen kontroverse Aspekte oft nicht zur Sprache und es werden vorschnell faule Kompromisse geschlossen.
- Wenn die Beziehungssicherheit (= „psychological safety“) unter den Mitgliedern fehlt, scheuen sich Einzelne davor, ihre Meinung frei zu äußern, um einem bedrohlich wirkenden Konflikt aus dem Weg zu wegen. Missverständnisse werden dann nicht geklärt und anstelle des Aussprechens abweichender Blickwinkel, passt sich der Einzelne an („Groupthink“).
- In der Gruppe sind die Einflussunterschiede zwischen den Mitgliedern nicht ausreichend geklärt. In diesem Fall kann es sein, dass sie mit einer sachlichen Frage gleichzeitig Rollen und Verhältnisse mitverhandeln. Diskussionen verlaufen hitzig und manchmal störrisch, wenn Machtkonflikte latent mitlaufen.
- Die Teammitglieder haben noch nicht erkannt, dass sie zu einer guten Aufgabenerfüllung aufeinander angewiesen sind und sie die Aufgabe nur mit Kooperation bewältigen können.
- Manchmal gibt es zwischen einzelnen Mitgliedern versteckte oder unausgesprochene Nähe-Verhältnisse. Es kann dann sein, dass diese Teammitglieder persönliche Nähe oder Vertrauen über inhaltliche Übereinstimmung zum Ausdruck bringen. m Gespräch entsteht der Eindruck, dass verdeckte Allianzen die freie Meinungsäußerung überdecken.
All diese Faktoren können den Entscheidungsprozess behindern. Doch wie erkennt man, ob eine Gruppe gut zusammenarbeiten und sinnvolle Entscheidungen treffen kann? Ein erstes gutes Zeichen ist es, wenn die Beteiligten in der Lage sind, das eigene Miteinander zu reflektieren und sich produktiv Feedback zu geben – und dieses auch anzunehmen.
Sieben Delegationsstufen
Wie viel Verantwortung Teams letztlich übernehmen können, hängt von vielen Faktoren ab – zum Beispiel vom Thema, von der Kompetenz einzelner Personen und von der Delegationsbereitschaft der Führungskraft. Dabei lassen sich sieben Stufen der Delegation unterscheiden:
Wir sehen den Beitrag von HR darin, Delegation an das Team im eigenen Verantwortungsbereich auszuprobieren und die Führungskräfte im Unternehmen dabei zu unterstützen, mehr Verantwortung an ihre Mitarbeiter:innen zu übertragen. Dies bedeutet, dass HR hier in eine Moderatorenrolle geht und den Teamentwicklungsprozess unterstützt. Es gibt dabei grundsätzlich zwei Varianten: die Führungskraft verteilt die Teamaufgaben mit zugehöriger Delegationsstufe und bittet das Team lediglich um Feedback dazu. Oder die Führungskraft und das Team erarbeiten die Delegationsstufen gemeinsam in einem partizipativen Prozess.
Beispiel: Neugestaltung eines Recruitingprozesses
Wie das aussehen kann, zeigt das Beispiel der Neugestaltung eines Recruitingprozesses. HR-Leitung und Unternehmensleitung haben beschlossen, den Recruitingprozess neu aufzusetzen. Für diese Aufgabe gab es bisher keine Aufgabenverteilung im Team. Da die Führungskraft viel Vertrauen darin hat, dass die Teammitglieder ihre Kompetenzen gut einschätzen können, entscheidet sie sich für die partizipative Variante der Delegation.
1) Meeting planen: Zuerst überlegt die HR-Leitung, welche Themen sie mit dem Team besprechen sollte. Im Falle des Recruitingprozesses kann das sein:
- Führung: Einbinden der Linien-Führungskräfte in die Entwicklung des zukünftigen Prozesses
- Kanäle: Auswahl der zukünftig genutzten Recruitingkanäle
- Social Media: Nutzung sozialer Medien für das Recruiting
- Künstliche Intelligenz: Recherche und Entwicklung einiger Zukunftsszenarien
- Digitalisierung: Marktrecherche vorhandener Tools, Einbinden wichtiger interner Stakeholder
Anschließend erfolgt die Einladung zum Teammeeting.
2) Delegationstafel vorbereiten: Die Führungskraft bereitet die Delegationstafel (siehe unten) als leere Übersicht vor, um die ausgehandelten Verantwortlichkeiten einzutragen.
3) Delegationstafel erläutern: Beim Teammeeting erklärt die HR-Leitung die Delegationsstufen. Dafür gibt sie allen Teilnehmenden einen Ausdruck der Delegationsstufen oder plottet sie auf ein Flipchart.
4) Aufgaben klären: Jede Aufgabe wird kurz im Team diskutiert. Pro Aufgabe sollte die Gruppe maximal vier bis zehn Minuten Diskussionszeit einplanen – danach klingelt ein Timer.
5) Verantwortliche bestimmen: Ist die Aufgabe klar, werden der/die Verantwortlichen bestimmt. Ist es das ganze Team oder einzelne Personen? Sie werden dann mit ihrem Namen auf der Tafel festgehalten.
6) Delegationsstufen pokern: Nun wird die Delegationsstufe „gepokert“: Auf “1 – 2 – 3 – los” zeigt jeder durch Handzeichen, welche Delegationsstufe er/sie für angemessen hält:
Variante A: Jedes Teammitglied und die Führungskraft erklären, warum sie im konkreten Fall so entscheiden würden.
Variante B (kürzer): Jene Person, die auf der höchsten beziehungsweise auf der niedrigsten Stufe ihre Entscheidungsempfehlung abgegeben hat, erläutert kurz ihre Beweggründe.
7) Gegenseitiges Zuhören: Während die Argumente vorgebracht werden, hören die übrigen Teammitglieder lediglich zu.
8) Zweite Abstimmung: Nachdem alle Argumente und Entscheidungsempfehlungen vorgebracht wurden, hat jeder die Möglichkeit, seine Einschätzung zu überdenken: Auf “1 – 2 – 3 – los” wird neuerlich abgestimmt.
8) Führungskraft entscheidet: Die Führungskraft bezieht das Teamvotum mit ein, entscheidet in ihrer Verantwortung über die Delegationsstufe und teilt diese mit.
9) Verantwortlichkeiten festhalten: Abschließend werden die Verantwortlichkeiten und die Stufe in die Tabelle der Delegationstafel eingetragen und das nächste Thema wird besprochen.
Aufgabenverteilung im neuen Recruitingprozess
Die Aufgaben werden nun wie folgt verteilt:
Führung: Susanne, eine erfahrene und langjährige Mitarbeiterin im HR-Team, die ein gutes Standing unter den Führungskräften hat, möchte sich diesem Thema widmen. Susanne ist kompetent und verlässlich. Wenn sie sagt, sie macht etwas, kann man sich darauf verlassen. Ihr wird dieses Thema (Entscheidungsbereich) auf einer 6 übertragen. Sie übernimmt das gesamte Anliegen und hält ihre Führungskraft auf dem Laufenden.
Social Media: Martin, gerade mal vier Monate im Unternehmen, kommt direkt von der FH und hat eine Leidenschaft für Social Media. Er möchte recherchieren, wie man sich diesbezüglich besser aufstellen kann und hat selbst auch schon viele Ideen. Nachdem er die Unternehmenskultur aber noch nicht so gut kennt, möchte die HR-Leitung hier stärker involviert sein. Martin startet mit einer Fact Finding Mission, erarbeitet Vorschläge und dann geht’s zur HR-Leitung. Ihm wird das Thema also auf einer 3 übertragen.
Digitalisierung: Es gibt bereits einen Recruitingprozess, der über Sharepoint läuft. Doch dieser ist veraltet. Zunächst braucht es einen Überblick über zeitgemäße IT-Lösungen am Markt. Den Lead dafür übernimmt Julia, die den aktuellen Recruitingprozess gemeinsam mit der IT aufgesetzt hat. Die HR-Leitung hat dafür ein Budget freigegeben, möchte aber hier gemeinsam mit Julia entscheiden. Daher wird auf einer Stufe 4 übertragen.
Achtung: der Delegation-Poker ist eine Methode, um den Grad der Entscheidungs- und Verantwortungsübernahme zu klären und transparent festzuhalten! Er eignet sich nicht, um Fragen zu klären wie „Was tun wir?“ oder „Wer tut was?“
Fazit
Gemeinsame Entscheidungsprozesse bieten die Möglichkeit, andere Perspektiven kennenzulernen. Der Prozess steigert den Gruppenzusammenhalt. Wichtig ist, gerade bei größeren Themenstellungen beziehungsweise Projekten, diese in einzelne Themen zu gliedern – in „kleine Happen“ – damit Mitarbeitende klar wissen, nicht nur auf welcher Stufe sie entscheiden dürfen, sondern auch worüber. Dann steigen auch Transparenz und Motivation.
Webtipps
Lesen Sie auch die folgenden Blogbeiträge von Annika Serfass und Doris Schäfer:
Entscheiden mit den sechs Hüten des Denkens.
Intuitiv entscheiden: Der Umgang mit dem Bauchgefühl.
Literaturtipps
Weniger schlecht entscheiden: Praktische Entscheidungstools für agile Zeiten im HR-Management. In: personal manager 2/2023.
Weniger schlecht entscheiden. Praktische Entscheidungstools für agile Zeiten. Von Annika Serfass und Doris Schäfer. Vahlen 2021.
Agile Organisationsentwicklung: Handbuch zum Aufbau anpassungsfähiger Organisation. Von Bernd Oestereich und Claudia Schröder. Vahlen 2020