Vielleicht ticken Sie wie die meisten von uns: Wir sehnen uns nach einer schnellen Lösung, wie wir diese Krise hinter uns bringen. Und am besten gehen wir danach gestärkt, resilient und sogar neu aus dieser Krise heraus. So eine Resilienz-Impfung für Organisationen wäre doch etwas Feines!
Sie wissen natürlich genauso wie ich, dass dies nicht so einfach ist. Die Wirtschaft und die Organisationen sind viel zu komplex. Aber es gibt andere Wege! Vor allem für Organisationen, die sich nachhaltig aufstellen wollen, um Krisen und die Digitalisierung zu bewältigen.
Probleme des Komplexitäts-Cocktails und die passende Medizin
Das Problem mit dieser Krise: Sie ist wie alle Krisen tückisch und vermischt sich mit anderen Herausforderungen. Sie beschleunigt, ist nicht vorhersehbar und zeigt schnell Schwachpunkte auf, die es vorher schon gab. In diesen Cocktail mischt sich die Digitalisierung als Herausforderung, was die Komplexität für Organisationen schon seit Jahren beschleunigt. Es braucht also eine Medizin für diesen Komplexitäts-Cocktail.
Jetzt könnte man sagen, dass die Unternehmen die Digitalisierung in der Krise eh gut bewältigt haben, mit Homeoffice, virtueller Zusammenarbeit und Co. Ja, eh. Ich würde sagen, das ist ein erster guter Schritt und gibt Energie, um mehr zu schaffen: nämlich eine agile Spielfähigkeit zu entwickeln. Das ist aus unserer Sicht die Antwort auf Komplexität. Alles andere ist eher ein Pflaster.
Was ist eine agile Spielfähigkeit?
Agile Spielfähigkeit ist das Vermögen, sich als Unternehmen immer wieder auf unplanbare, nicht vorhersehbare Herausforderungen einzulassen, sich anzupassen und dabei neu zu erfinden. In anderen Worten: Können sie „richtig“ improvisieren, bleiben sie handlungsfähig und sind dabei auch noch innovativ. Die Challenge? Jahrhundertelang haben Organisationen anders getickt, weil der Fokus auf Effizienz lag. Die meisten Denkmodelle und Ansätze sind danach ausgerichtet. Und Hand aufs Herz: die meisten Organisationen ticken in ihrer Grundausrichtung so. Deshalb braucht es eine Transformation: es entsteht eine neue Organisation, aus der Raupe wird ein Schmetterling. Wir nennen das auch einen Wandel zweiter Ordnung.
Die 9 Hebel der agilen Transformation
In unserer Arbeit mit Organisationen haben wir neun Hebel in agilen Transformationen identifiziert:
- Entscheidungen: Sie sind Motor agiler Organisationen. Ein gemeinsames, transparentes Verständnis darüber, wie gute Entscheidungen zustande kommen, ist wichtig.
- Kultur: Sie wird indirekt über die Bande angespielt, weil Glaubensätze, Normen und Muster extrem stabil und nur schwer zu ändern sind.
- Purpose: Damit sind wir beim Star unter den Hebeln. Er gibt Orientierung, schafft Identität in Ungewissheit, wertschätzt Vergangenes und verbindet Mensch & Organisation.
- Rollen: Sie passen sich permanent (monatlich) an neue Anforderungen an und sind für alle transparent dokumentiert. Klare Erwartungen helfen Personen im Fokussieren und die Vielfalt lässt sich dadurch flexibler verarbeiten.
- Wachsen & Entwickeln: Organisationen schaffen Resonanzräume für die Entwicklung ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Im Buch beschreiben wir wie Organisationen Heimat und Ort für persönliche Herausforderungen sein können und wie es ihnen gelingt ständig dran zu bleiben.
- 10 Fähigkeiten: Sie unterstützen agiles Arbeiten und den Umgang mit Unsicherheit & Unplanbarkeit. Eine Metakompetenz ist Sprache mit der einhergehenden Haltung um Ereignisse und Stimmungen benennen zu können.
- Führung & Macht: Dies ist einer der zentralen Hebel. Im Zentrum steht die neue Verteilung von Macht und deren Übersetzung für Führung.
- Agile Teams: Sie sind das Herz der Transformation. Agile Teams kennen und können diese Spielarten, wie zum Beispiel Meeting-Formate & Arbeiten in Schleifen. Die Basis sind jedoch Konfliktfähigkeit und psychologische Sicherheit.
- Soziale Innovation: Diese entfaltet sich, indem Teams neu arbeiten, denken, kommunizieren – und zwar auf den jeweiligen Transformationsbedarf abgestimmt: Dies beinhaltet neue Kompetenzen, Jobs, Abläufe, Produkte und/oder Geschäftsmodelle.
Ich habe diese neun Hebel jetzt sehr verkürzt dargestellt, aber ich hoffe, sie geben Ihnen Ideen, wo Sie ansetzen können. In unser Praxis nutzen wir diese nicht nur im Umsetzen, sondern auch als Standortanalyse für Organisationen: Wie sind Organisationen bezogen auf die einzelnen Hebel aufgestellt? Wo liegt Veränderungsbedarf? Was ist leicht zu stärken? Und welche verschiedenen Bilder gibt es in der Führung dazu? Die nächsten 3 Beispiele sollen für Sie Anregungen sein, wo Sie mit Ihrer HR-Kompetenz ansetzen können.
#1 Best-Practice: Prototypisches, schleifenhaftes Arbeiten in Teams
Agile Teams sind das A und O, um das Neue in Organisationen zu bringen. Unser Kunde entschied sich für fünf agile Teams, die die neue Strategie der Zukunft prototypisch erarbeiten. Bis das Ganze wirklich rund lief, hat es ein wenig Zeit gebraucht. Diese Rahmenbedingungen haben geholfen:
- Ein definierter Rhythmus: Alle vier Wochen präsentieren die Teams in einem „Review“ ihre Fortschritte. Jeder bekommt Feedback von den anderen Teams und dem Management. Der vorab definierte Entscheidungsprozess stellt sicher, dass wichtige Perspektiven transparent in die Entscheidungen integriert sind und diese Entscheidungen von den Verantwortlichen getroffen werden. Erfolgsfaktor: Jeder „Review“ ist lustvoll gestaltet und immer wieder Highlight des Prozesses.
- Schleifenhaftes Arbeiten und fixe Zusammenkünfte: Eine gemeinsam definierte Struktur von Meetings garantiert die selbstorganisierte Arbeitsweise. Nach dem Review wird in „Plannings“ bestimmt, woran die Teams arbeiten werden und „Stand-ups“ synchronisieren die Tätigkeiten. Auch Co-Creation und Retrospektive, die die Zusammenarbeit reflektieren, fließen in diese Zwischenzeit ein.
Das Besondere: Diese fünf interdisziplinären Teams aus verschiedenen Bereichen sind Flaggenträgerinnen und Flaggenträger des Neuen. Sie haben mittlerweile mehr als 100 Personen „mitgenommen“, die an unterschiedlichsten Prototypen arbeiten. Die Magie: Das Unternehmen beginnt, sich grundlegend zu ändern. Gerade in der Krise war diese neue Kompetenz zentraler Motor – und das Unternehmen konnte weiterhin auf Kurs bleiben. Innerhalb von einer Woche wurde der ganze Prozess virtuell weitergeführt und der Rhythmus enger getaktet. Dadurch wird die neue Strategie nach wie vor konsequent und innovativ umgesetzt.
#2 Best-Practice Meeting Mastery im Führungsteam
Eine Geschäftsführerin hat ein Dilemma: Als Organisation müssen Sie agiler werden, aber so wie sie im Führungsteam zusammenarbeiten, wird das nur schwer klappen. Nach einer kurzen Analyse ist klar was los ist:
- Es besteht wenig Klarheit darüber, was der GEMEINSAME Auftrag/ Purpose ist und was das für die Einzelnen bedeutet.
- Die Meetings sind diffus und produzieren mehr Einheitsbrei als Klarheit. Auch deshalb sind Entscheidungen schwer zu treffen beziehungsweise werden nicht mitgetragen.
Um dies zu verändern wird mit dem Purpose, den damit verbundenen Aufgaben und einer Rollenklärung gestartet: „ We set the direction, lead and create the conditions for our people to achieve our vision.“ Dieser Purpose macht den Beteiligten deutlich, dass sie als Team agiler werden müssen, was sie auch auf ihre Aufgaben und Rollen übersetzen. Also keine Ausreden mehr … und wirklich viel Klarheit! Im zweiten Schritt geht es an die Meetings. Als Basis dienen die vier Räume selbstorganisierter Teams nach Brian Robertson:
Das spezielle an diesem Ansatz ist, dass jede Meetingstruktur an dem jeweiligen Zweck des Raumes ausgerichtet wird und dadurch Fokus herstellt. In Raum eins geht es um operatives Arbeiten, schnelles Tun weshalb hier zum Beispiel Synchronisations-Meetings in Vordergrund stehen. Im organisationalen Raum geht es um die Spielregeln und Strategie des Teams, weshalb Rollen, Verantwortungen und Entscheidungsspielräume geklärt werden. Im Interpersönlichen Raum geht es um die Zusammenarbeit im Team: Worin sind wir als ganzes Team gut, worin dürfen wir lernen? Der 4. Raum stellt individuelle Entwicklung ins Zentrum: Was darf/muss ich noch lernen, um meine Rollen gut ausfüllen und meinen Beitrag gut leisten zu können?
Dieser Ansatz führt zu einer maßgeschneiderten Meetingstruktur, die in Zukunft eine bereits versierte HR-Leiterin nach einem definierten Ablauf moderieren wird:
- Synchronisations-Meeting: Operatives Abstimmen der Geschäftsbereiche; 1 x pro Woche für 1 Stunde
- Steuerung-Jour fixe: Entwicklungen der Organisation im Blick haben und anpassen; 1 x pro Monat, 3 Stunden
- Reflexions- & Rollen-Meeting: Rollen reflektieren, anpassen und Team stärken; 1 x pro Quartal, ¾-Tag
- Strategie-Workshop: Strategie überprüfen, anreichern, hinterfragen und Fokus für das nächste halbe Jahr setzen; 2 x im Jahr, 1 bis 2 Tage
Die positive Wirkung ist schnell spürbar, auch wenn der Anfang anstrengend ist. Nach drei Monaten sind alle so überzeugt, dass die Führungskräften diese Struktur auf ihre Bereiche übertragen. Und zur Krisenzeit? Die Meetingfrequenz wird erhöht und auf virtuell umgestellt.
#3 Best-Practice: Neu verteilte Führung …
Ich sag‘s ehrlich: Das ist einer der herausfordernden Parts! Krisenfester und agiler zu werden, heißt nämlich mehr Führung und Verantwortung auf Mehrere zu verteilen. Und dieses Umstellen auf eine „neue Autorität“ ist nicht einfach. Vor allem was ist der Nutzen? In effizient organisierten Unternehmen war es sinnvoll, Verantwortungen und Entscheidungen zu bündeln. Wenn Organisationen aber aufgrund steigender Komplexität immer MEHR GUTE Entscheidungen treffen müssen, macht es Sinn, dass Entscheidungssituationen durch Führungskräfte nicht zu Flaschenhälsen (MEHR) werden und Expertinnen und Experten ihre Kompetenz nutzen, um GUT zu entscheiden.
Ein visionäres junges Führungsteam will diesen Weg gehen, nachdem die Organisation stark gewachsen ist. Es setzt neue Strukturen auf und baut vieles um. Mit einem hat dieses Team nicht gerechnet: Immer wieder kommen sie in Meetings und Entscheidungssituationen an ihre persönlichen und gemeinsamen Grenzen von Führung. Als wir dazukommen, brennt der Hut, das Team ist sich nicht mehr einig, manche wollen ins Alte zurück.
Vieles wird gemacht, zwei Dinge machen einen Unterschied. Erstens ein gemeinsames Bild zu haben, wie neue Führung aussehen kann und zweitens individuell begleitet zu werden. Wir nutzen dafür das Modell der neuen Autorität von Geisbauer: Sieben Handlungsfelder, die alte und neue Führung aufzeigen. Im zweiten Schritt identifizieren wir auf Basis von Feedbacks der Kolleginnen und Kollegen individuelle Entwicklungsfelder, die in der Gruppe geteilt werden. Wichtig ist, dass jede/r individuell von Coaches begleitet wird und die eigene Entwicklung im Team laufend teilt. Nach einem Jahr ist vieles anders! Führung verstehen die Beteiligten heute mehr als Moderation und Unterstützung, jede/r hat einen passenden Style gefunden. Manche von ihnen brauchen jetzt weniger Zeit für Führung und finden dadurch neue Themenfelder.
Und wie ticken Sie?
Wenn Sie so ticken wie ich, dann haben Sie bereits beim Lesen darüber nachgedacht, wo Sie als Organisation oder Team gerade stehen. Vermutlich gibt es eine Beispiel oder eine Stelle, bei der Sie besonders in Resonanz gehen. Was ist es, das sie anspricht oder bewegt? Wie tickt Ihre Organisation gerade und worin werden Sie gefordert? Wenn Sie sich etwas wünschen könnten, was wäre das? Was sind die Stolpersteine, die Sie jetzt schon sehen? Was können Sie tun, um diese aus dem Weg zu räumen und dran zu bleiben? Schreiben Sie am besten alles auf. Und dann? Den ersten, nächsten, kleinen Schritt umsetzen. Sie haben Fragen oder Anregungen? Ich freue mich, wenn Sie die mit mir teilen!
Literaturtipp
Moving Organizations. Wie Sie sich durch agile Transformation krisenfest aufstellen. Von Frank Boos und Barbara Buzanich-Pöltl. Schäffer Poeschel Verlag 2020.