Ein großer Teil der Bevölkerung fühlt sich durch die Covid-19-Pandemie stark belastet, wie eine repräsentativen Gallup-Umfrage im Auftrag der Sigmund Freud Privatuniversität Wien zeigt. Wie sich diese Belastungen äußern und welchen Anteil die Arbeitswelt daran hat, darüber haben wir mit Michael Musalek gesprochen, dem ärztlichen Leiter des Anton Proksch Instituts und Vorstand des Instituts für Sozialästhetik und psychische Gesundheit an der Sigmund Freud Privatuniversität.
Professor Musalek, wie wirkt sich die Corona-Krise auf die psychische Gesundheit der Österreicherinnen und Österreicher aus?
Die Auswirkung ist massiv, denn ein gutes Viertel der Bevölkerung ist psychisch wirklich belastet. Das hat uns überrascht, denn mit einem so hohen Anteil hatten wir nicht gerechnet. Das bedeutet, dass die psychischen Probleme, welche die Krise nach sich zieht, viel weiterer verbreitet sind als die Ansteckungen durch das Virus, die sich ja gemessen an der Bevölkerung im Promillebereich bewegen.
Auf welchen Zeitraum der Krise bezieht sich die Befragung?
Wir haben die Befragung im Mai durchgeführt, also nach dem Lockdown, als es die ersten Erleichterungen gab. Diesen Zeitraum haben wir bewusst gewählt. Denn es braucht immer eine gewisse Zeit, bis wir psychisch auf Veränderungen reagieren. Das wissen wir aus anderen Krisen.
Hinzu kommt: Je länger eine Krise dauert, desto größer sind die Auswirkungen. Es ist erstaunlich, was Menschen an Schicksalsschlägen aushalten können. Dauerbelastungen hingegen können wir besonders schlecht standhalten, sowohl bei der Arbeit als auch im Privaten.
Wie zeigen sich die Belastungen im Alltag?
Die Menschen sind aggressiver und reizbarer – und zwar aus Überforderung. Denn wenn wir überfordert sind, reagieren wir gereizt, sei es jetzt verbal oder bezogen auf unser Handeln. Hinzu kommt, dass die Lebensfreude in der Krise abnimmt. Mehr als die Hälfte beklagt zudem einen Verlust an Autonomie.
Gilt das für alle Menschen oder sind bestimmte Gruppen besonders betroffen?
Im Prinzip sind alle betroffen, Frauen etwas stärker als Männer. Was uns gewundert hat: Besonders belastet sind nicht die alten Menschen, was wir zuerst vermutet haben, sondern diejenigen zwischen dem 30. Und 50. Lebensjahr.
Von welchen Umständen der Krise fühlen sich die Menschen besonders belastet?
Wir haben eigentlich damit gerechnet, dass alle, die sich wirtschaftlich beeinträchtigt fühlen, auch psychisch belastet sind. Doch diese Überschneidung gilt nur für rund zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung. Das heißt, der größte Teil der Menschen, die sich belastet fühlen, ist dies aufgrund der Maßnahmen zum Schutz vor der Ausbreitung von Covid-19.
Was bedeutet das aus Ihrer Sicht in der Konsequenz?
Das zeigt, dass wir uns nicht nur darum kümmern müssen, die Menschen finanziell oder wirtschaftlich zu unterstützen, obwohl das natürlich auch richtig, gut und wichtig ist. Aber wir müssen auch die Ängste der Menschen im Blick haben. Denn psychische Belastungen und Angst wirken sich sehr negativ auf das Immunsystem aus, was wiederum Infektionserkrankungen nach sich ziehen kann.
Gibt es weitere gesundheitlichen Auswirkungen der Krise?
Ein Ergebnis der Studie ist, dass die Menschen vermehrt rauchen und Alkohol konsumieren. Das ist besonders problematisch, weil Alkohol zwar kurzfristig entspannt, aber längerfristig Depressionen fördert. Dadurch verschlechtert sich die psychische Situation der Menschen zusätzlich. Außerdem schwächt Alkohol die Immunabwehr. Alkohol ist kein Desinfektionsmittel, was manche Leute immer noch glauben, sondern genau das Gegenteil. Wir werden einfach anfälliger für Infektionskrankheiten dadurch – und das ist natürlich in einer Krisensituation wie dieser völlig kontraproduktiv.
Welchen Anteil hat die Arbeitswelt an der psychischen Belastung der Menschen?
In unserer Studie war die Arbeitswelt nicht direkt im Fokus. Aber sie hat zum Bespiel gezeigt, dass Städter wesentlich stärker belastet sind Menschen auf dem Land. Und das hatte vor allem mit der Wohn- und Arbeitssituation während des Lockdowns und danach zu tun. Je kleiner die Wohnung ist und je größer die Familie, desto höher ist die psychische Belastung. Denn wenn ich versuche, zu Hause zu arbeiten, und mich gleichzeitig um die Familie kümmern muss, führt das unweigerlich zu Überlastungen. Frauen waren davon besonders stark betroffen.
Klar ist auch, dass die Krise vor allem in jenen Betrieben einschlägt, in denen es schon vor Corona Probleme gab – und zwar nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch kultureller beziehungsweise kommunikativer Natur. Es gibt ja nicht nur wirtschaftlich gesunde und kranke Betriebe, sondern auch psychisch gesunde und kranke. Und es sind die psychisch kranken Unternehmen, in denen sich die Menschen besonders belastet fühlen.
Was können Arbeitgeber jetzt tun, um psychische Belastungen zu verringern?
Das erste ist, dass sie eine Sensibilität dafür entwickeln, dass Mitarbeiter belastet sein können. Es geht darum, dies überhaupt in Betracht zu ziehen. Wenn Mitarbeiter gereizter werden, sollten Führungskräfte erkennen, dass diese Gereiztheit höchstwahrscheinlich einer Überlastung geschuldet ist. Denn 90 bis 95 Prozent der Menschen, die gereizt sind, fühlen sich gerade überfordert.
Diese Überforderung kann auch leicht im Homeoffice auftreten. Die meisten Unternehmer haben ja den Eindruck, dass die Leute zu Hause wenig arbeiten. Nach unseren Erfahrungen stimmt das nicht. Natürlich gibt es Menschen, die das ausnutzen, aber sie gehören eher zu einer Minderheit. Die allermeisten arbeiten mehr, weil sie nicht fähig sind, sich eine wirkliche Arbeitsstruktur zu schaffen. Im Büro arbeite ich von acht bis 16 oder 17 Uhr – und dann ist es aus. Zu Hause ist es nicht immer so einfach, das zu steuern und zu strukturieren. Homeoffice ist für die allermeisten nicht unbedingt nur etwas Angenehmes.
Der Herbst hat begonnen und die Fallzahlen steigen. Welche Prognose geben Sie für die Entwicklung der psychischen Belastungen in der Bevölkerung ab?
Wir müssen damit rechnen, dass sich die psychisch-sozialen Probleme noch weiter verstärken werden. Denn ebenso wie das Virus ansteckend ist, sind auch die psychischen Probleme, die es nach sich zieht, ansteckend. Daher sprechen wir auch von einer „psychosozialen Pandemie“. Wie sich diese in den kommenden Monaten entwickelt, werden wir im Frühjahr in einer Nachuntersuchung erheben.
Webtipp
Zur Studie
Für die repräsentative Studie „Was haben wir aus der Covid-19-Krise bisher gelernt? Und was können wir in Zukunft besser machen?“ hat das Gallup-Institut im Auftrag des Instituts für Sozialästhetik der Sigmund Freud Privatuniversität Wien zwischen dem 15. und 26. Mai 2020 1.000 Österreicherinnen und Österreich zu ihren psychischen Belastungen während der Corona-Krise befragt.