Fachkräftemangel, stockende Geschäfte und löchrige Lieferketten: Unternehmen kämpfen aktuell an verschiedenen Fronten mit knappen Ressourcen. Wir haben bei Jutta Rump nachgefragt, wie sich dieser Mangel auf die Personalarbeit auswirkt. Die Direktorin des Instituts für Beschäftigung und Employability in Ludwigshafen (IBE) untersucht jährlich mit ihrem Team und dem Personaldienstleister Hays, was die HR-Szene in der DACH-Region bewegt. Der diesjährige HR-Report zeigt, welche Engpässe besonders schmerzen und wie Organisationen ihnen begegnen. Was Unternehmen jetzt versuchen sollten, erklärt die Professorin für Personalmanagement und Organisationsentwicklung im Interview.
Frau Professorin Rump, wir leben in einer Zeit, in der viele Ressourcen knapp werden. Woran fehlt es Unternehmen aktuell besonders?
Diese Frage hat uns im HR-Report beschäftigt. Darin haben wir Unternehmen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gefragt, welche Ressourcen ihnen fehlen, um ihre strategischen Ziele zu erreichen. Dabei kam heraus, dass der größte limitierende Faktor die Zeit ist, dicht gefolgt vom Fachkräftemangel. Etwas abgeschlagen kam dann das Geld – und ganz weit abgeschlagen der Nachwuchs.
Behindert der Nachwuchsmangel die Unternehmen also nicht?
Ich glaube schon, dass die Unternehmen den Nachwuchsmangel auf der Agenda haben. Allerdings denken sie in der aktuellen Krisensituation sehr stark operativ und kurzfristig. In Nachwuchs müssen sie langfristig investieren. Aktuell drückt es sie eher, dass sie wenig Zeit, wenig qualifiziertes, ausgebildetes Personal und nur geringe finanzielle Spielräume haben. Das sind die drei wesentlichen knappen Güter im Moment. Die Befragten haben in der Studie nicht gesagt, dass es keinen Nachwuchsmangel gibt. Sie mussten lediglich eine Rangvolle erstellen – und das ist das Ergebnis.
Was sind die Hauptursachen für die Engpässe?
Viele Unternehmen merken, dass sie ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen, Geschäftsmodelle überdenken und investieren müssen – zum Beispiel in die Digitalisierung und in ökologische Nachhaltigkeit. Sie müssen sich überlegen, inwiefern sie Energiequellen ersetzen oder Prozesse neugestalten. Einige stellen ihre Liefer- und Wertschöpfungsketten neu auf, sie holen nach den Erfahrungen der Pandemie teilweise Einheiten zurück, die sie vor 15 oder 20 Jahren ins Ausland verlagert haben. Das ist mit enorm hohen Investitionen verbunden. Dazu kommt die demografische Entwicklung.
Wir erleben also gerade eine Transformations-Vielfalt, wie wir sie in den letzten 75 Jahren nicht hatten – in dieser Geballtheit, Geschwindigkeit und Dynamik: Die Coronakrise hat zu einer Verdopplung der Veränderungsgeschwindigkeit geführt. Das bedeutet, dass sich die Reaktionszeit halbiert hat. Jetzt kommt die geopolitische Situation dazu, die zu einer Verknappung der Energieressourcen führt und uns wenig Zeit lässt, darauf zu reagieren. Als wir die Befragung im November 2021 durchgeführt haben, war der Krieg in der Ukraine ja noch gar nicht ausgebrochen. Die Ergebnisse wären vermutlich noch extremer ausgefallen, würden wir die Unternehmen heute fragen.
Sprechen wir über den Faktor Personal: An welchen Fähigkeiten fehlt es den Unternehmen?
Fakt ist, dass die Gruppe der gesuchten Fachkräfte immer größer wird. Alle Entscheiderinnen und Entscheider, die wir befragt haben, bestätigen, dass ein Fachkräftemangel auf dem für sie relevanten Arbeitsmarkt herrscht. Es fehlt aber nicht nur an Pflegekräften, ITlern und Handwerkern. Mittlerweile ist der Mangel fast flächendeckend zu spüren, es gibt nur ganz wenige Bereiche, die ausgenommen sind. Da die Babyboomer jetzt schon in Rente gehen, können wir allmählich von einer allgemeinen Personalknappheit sprechen, nicht nur von einem Fachkräftemangel. Auch im Bereich der an- und umgelernten Kräfte haben Unternehmen Probleme, Jobs zu vergeben. Und: Was wir jetzt spüren, ist erst der Anfang. Richtig zur Sache geht es zwischen 2025 und 2035. Denn wir haben nur 60 Prozent der benötigten Arbeitskräfte als Nachwuchs in der Pipeline. Diese Negativ-Entwicklung nimmt jetzt an Fahrt auf.
Wie begegnen Unternehmen den personellen Engpässen?
Als wir die Unternehmen für den aktuellen HR-Report gefragt haben, in welche Bereiche und Themen sie investieren, nannten sie an dritter Stelle Personalentwicklung – noch vor Strategieentwicklung. Sie wissen, dass Personalentwicklung wichtig ist und wollen darin investieren. Aber auf die Frage, wie sie mit dem Personalmangel tatsächlich umgehen wollen, haben sie geantwortet, dass sie rekrutieren werden. Dabei war ein Ergebnis der Studie ja gerade, dass Personal knapp ist, weil der Arbeitsmarkt leergefegt ist. Recruiting ist daher nur begrenzt hilfreich. Bei den Antworten fehlte uns die Kreativität, alternative Lösungen für den Personalmangel zu suchen – zum Beispiel über Up- oder Reskilling, Zeitarbeit, Automatisierung oder Kooperationen und Zusammenschlüsse mit anderen Betrieben, die es zum Beispiel im Handwerk häufig gibt.
Das heißt, Unternehmen fehlen Ideen, wie sie dem Personalmangel begegnen können?
Es gibt jedenfalls eine Lücke zwischen Reden und Handeln. In der Theorie wird zum Beispiel die Personalentwicklung als wichtig eingestuft, aber im praktischen Handeln verfallen viele Managerinnen und Manager in Reflexe, sprich: Sie setzen weitgehend auf das Recruiting, obwohl sie eigentlich wissen müssten, dass der Effekt begrenzt ist.
Was würden Sie Betrieben vor dem Hintergrund der Studie raten?
Schauen Sie über den Tellerrand, werden sie kreativ und machen Sie sich klar: Was wir gerade erleben, ist die Ouvertüre, nicht der Höhepunkt. Der kommt noch. Also überprüfen Sie alle Optionen und Ideen, die Sie haben, denken Sie dabei quer. Denn eines ist klar: Wenn der Personalmangel richtig Fuß fasst, dann ist ein attraktiver Arbeitgeber nicht der mit 35 Arbeitszeitmodellen. Das hat dann nämlich jeder. Attraktivität bemisst sich auch nicht nur an der Frage, was ich Menschen geben kann, damit sie mich „toll“ finden.
Attraktiv zu sein, bedeutet vor allem, dass ich stabil bin in meiner Entwicklung, meinem Geschäftsmodell, meinen Prozessen und meiner wirtschaftlichen Gesundheit. Dementsprechend muss ich auch in strategischen Dimensionen denken, wenn es darum geht, mit diesem limitierten Faktor Personal umzugehen. Es reicht nicht, reflexartig und kleinteilig Angebote zu schaffen, die jeder kopieren kann. Stattdessen sollten wir uns überlegen, wie das gesamte Konstrukt des Betriebes aussehen soll: Was macht mich zukunftsfähig – und zwar in allen Dimensionen – von den Geschäftsmodellen über die Prozesse bis hin zur Kultur? Das kann möglicherweise bis zu der Frage reichen, ob ich mich mit anderen zusammenschließe, weil ich es alleine nicht mehr schaffe.
Welche Future Skills werden Organisationen künftig vor allem benötigen?
Wir verbinden den Begriff Future Skills meist mit digitalen Fähigkeiten – und natürlich sind digitale Anwenderkompetenzen schon heute in praktisch jedem Beruf wichtig. Meiner Meinung nach gehören sie zu den Schlüsselkompetenzen wie Rechnen, Schreiben und Lesen dazu. Aber wir benötigen weitere Skills. Ganz vorne stehen für mich Lernbereitschaft und Lernfähigkeit sowie Veränderungsbereitschaft und Veränderungsfähigkeit. Ich werde nicht müde, das zu betonen: Nicht nur die Fähigkeit ist wichtig, sondern auch die Bereitschaft, das Mindset. Wir müssen uns klar machen, dass Beweglichkeit und Offenheit zentrale Kernkompetenzen sind, weil wir in einer Welt des permanenten Wandels leben.
Eine wichtige Future Skill ist aber auch, uns in Balance zu halten, Achtsamkeit und Widerstandsfähigkeit zu entwickeln. Das gilt völlig unabhängig davon, ob jemand hoch- oder niedrigqualifiziert sind. Ich halte zudem Gelassenheit für enorm wichtig. Damit meine ich die Fähigkeit, kurz inne zu halten und alles mit Distanz zu betrachten, um den Fokus zu bekommen. Wenn ich heute Nachrichtensendungen sehe oder Diskussionen auf Social Media verfolge, habe ich oft das Gefühl, dass wir von einer Hysterie zur nächsten kommen. Da würde uns eine gewisse Portion Gelassenheit ganz guttun.
Interview: Bettina Geuenich
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Zur Studie
Seit 2011 untersuchen das Institut für Beschäftigung und Employability (IBE) und die Hays AG im HR-Report jährlich aktuelle Personalthemen von Organisationen. Der Report besteht aus wiederkehrenden Fragen, die in der Langzeitbetrachtung untersucht werden, und einem aktuellen Schwerpunktthema. An dem aktuellen HR-Report, der sich mit dem Ressourcenmangel in vielen Unternehmen befasst, haben sich 978 betriebliche Entscheiderinnen und Entscheider beteiligt, davon 67 Prozent aus Deutschland, 17 Prozent aus Österreich und 16 Prozent aus der Schweiz. Neben dem Report haben die Studienautorinnen und -autoren erstmalig ein Interpretationspapier erstellt, das Sie hier herunterladen können: https://www.ibe-ludwigshafen.de/hr-report-2022/